Dass vor 100 Jahren nicht nur der Erste Weltkrieg endete, sondern auch die deutsche Kolonialherrschaft über Teile Afrikas, Ozeaniens und andere überseeische Gebiete, wird in der offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland bisher kaum berücksichtigt. Gemeinsam mit meiner Fraktion habe ich Anfang September eine kleine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, die sich mit Fragen der kulturpolitischen Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit auseinandersetzt.
Wer die Vergangenheit verdrängt, trifft falsche Entscheidungen für Gegenwart und Zukunft. Die deutschen Kolonialverbrechen gehören nach wie vor zu den am meisten verdrängten Ereignissen unserer deutschen Geschichte. Tradierte Vorstellungen behaupteter Ungleichwertigkeit finden ihre Fortsetzung in aktuellem Alltagsrassismus. Die Diskussion um die Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit und der damit verbundenen Verbrechen gehört in alle gesellschaftlichen Teilbereiche – nicht nur in die Politik und die Künste, sondern auch in die Bereiche des Rechts, der Wirtschaft, der Bildung oder selbst der Freizeit, denn in all ihnen wirkt das Erbe des Kolonialismus in vielerlei Form bis heute fort. Mit dieser sehr umfangreichen Kleinen Anfrage möchten wir Grüne eine möglichst umfassende und kritische Befassung mit der kulturpolitischen Dimension der deutschen Kolonialgeschichte befördern. Die Debatte um eine angemessene postkoloniale Erinnerungs- und Gedenkkultur muss auf Augenhöhe mit den Nachfahren der Opfer der Kolonialismus stattfinden.
Wir benötigen eine breite Diskussion darüber, wie mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten – in vielen Fällen schlichtweg Beutekunst – in deutschen Museen und Sammlungen umgegangen werden soll, inwiefern ihre Herkunft sowie die Wege, wie sie nach Europa und Deutschland gelangten, erforscht werden können und welche Mittel dafür notwendig sind bzw. die Bundesregierung gewillt ist, dafür bereitzustellen. Nicht zuletzt aufgrund der viel beachteten Ankündigung des französischen Staatspräsidenten Macron, binnen fünf Jahren die Voraussetzungen für die Rückgabe von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten an die Herkunftsländer schaffen zu wollen, nehmen sich nun auch die Koalitionsparteien dieser Thematik an. Deutschland wird einen eigenen Weg im Umgang mit den entweder geraubten oder für wenig Geld erworbenen Kunstwerken aus den ehemaligen deutschen Kolonien finden müssen.
Das Gelegenheitsfenster für Maßnahmen, die der Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit dienen, ist jetzt da. Doch die Bundesregierung scheint schlichtweg überfordert: so gibt es noch immer kein klares Umsetzungskonzept für das Humboldt Forum – dem Ort, an dem bereits ab Ende kommenden Jahres eine kulturpolitische Aufarbeitung unter gleichberechtigter Beteiligung der Nachfahren von Opfergruppen der deutschen Kolonialherrschaft stattfinden könnte. Auch die Provenienzforschung in Museen mit Bundesbeteiligung geht nur äußerst schleppend voran, bisher fließen hier kaum Gelder. Eine Bedarfsanalyse, die den grundsätzlichen Personalbedarf zur Erforschung der Provenienzen der Kulturgüter aus kolonialen Kontexten ermittelt, wäre an dieser Stelle sinnvoll. Wir Grüne haben einen entsprechenden Haushaltsantrag gestellt – ich hoffe, dass die Koalition diesen einfach aus Vernunft annehmen wird.
Die Antwort der Bundesregierung soll am 19. Oktober erscheinen.
Kommentar verfassen
Verwandte Artikel
© Linda Neddermann
Provenienzforschung ohne Koordinatensystem bei Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten
Mit Nebelkerzen und Salamitaktik versuchen die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) und Kulturstaatsministerin Monika Grütters als Stiftungsratsvorsitzende von fehlenden politischen Willen und einer Provenienzforschung ohne Koordinatensystem abzulenken. Nicht nur bei den…
Weiterlesen »
Koloniales Unrecht aufarbeiten, Rassismus verlernen
Die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus gehört zu den Themen, die mich in dieser Wahlperiode besonders umgetrieben haben. Noch immer wird über dieses Unrecht zu wenig gesprochen. Habt ihr schonmal von…
Weiterlesen »
© Thomas Trutschel
Rückgabe der Benin-Bronzen an Nigeria überfällig
Zur am Mittwoch bekannt gewordenen Einladung zu einem Spitzentreffen über den Umgang mit den Benin-Bronzen erklärt Kirsten Kappert-Gonther, Berichterstatterin für die Aufarbeitung des kolonialen Erbes: Die Benin-Bronzen sind ein eindeutiger Fall…
Weiterlesen »