Überfüllte Notaufnahmen, fehlende Bereitschaftsärzte am Wochenende, unnötige Fahrten mit dem Rettungswagen – fast wöchentlich wird über Probleme in der Notfallversorgung berichtet. Anlass genug für unsere Fraktion, sich mit den Baustellen der Notfallversorgung im Rahmen eines Fachgesprächs zu befassen.
Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Sprecherin für Gesundheitsförderung, hatte Wissenschaftler, Praktiker sowie Vertreter*innen von Verbänden eingeladen, um darüber zu diskutieren, wie die Notfallversorgung für die Bevölkerung, für die Patient*innen besser organisiert werden kann. Denn die Notfallversorgung ist nicht nur ein zentraler Baustein in der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, sie kann auch zur Blaupause für eine bessere Kooperation zwischen niedergelassenen Ärzt*innen und Krankenhäusern, zwischen ambulantem und stationärem Sektor werden.
Patientenbedürfnisse stärker berücksichtigen
Ein Notfall definiert sich dadurch, dass ein Patient, eine Patientin sich für einen Notfall hält. Wenn das so ist, muss der Mensch die notwendige und angemessene Hilfe bekommen. In der Praxis fehle ein einheitliches, sektorübergreifendes Vorgehen bislang. Dr. Frank Wösten, Leiter der Interdisziplinären Zentralen Notaufnahme am Klinikum Bremen Nord berichtete, dass die Mehrheit der Patient*innen in der Notaufnahme von sich aus kämen, aber teilweise auch von niedergelassenen Ärzten dorthin geschickt würden. Je nach Notaufnahme bräuchten etwa 40 Prozent der Patient*innen ambulante und keine stationäre Hilfe.
Verständliche Versorgungsstrukturen
Tobias Herrmann vom AQua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen wies auf die in Deutschland vergleichsweise zersplitterten Strukturen im Gesundheitswesen hin, die für Bürger*innen oftmals schwer verständlich seien. Der kassenärztliche Bereitschaftsdienst sei je nach Bezirk unterschiedlich organisiert und befinde sich derzeit stark im Umbruch. Allerdings fehlten bislang Qualitätsvorgaben für den ambulanten Bereich.
Bei der stationären Notfallversorgung gebe es sowohl regionale Über- als auch Unterversorgung, woran auch das jüngst verabschiedete Stufenkonzept des Gemeinsamen Bundesausschusses voraussichtlich wenig ändern werde. Wichtig sei eine stärkere Verzahnung der Angebote im ambulanten und Krankenhausbereich und eine für Patient*innen verständliche Angebotsstruktur durch die flächendeckende Etablierung von Portalpraxen an ausgewählten Krankenhäusern mit einheitlichem Versorgungsangebot und verlässlichen Öffnungszeiten. Neben der Befähigung von Patient*innen und der Stärkung ihrer Gesundheitskompetenz sei eine bessere Steuerung durch einheitliche Notruf-Leitstellen und eine standardisierte Ersteinschätzung erforderlich.
Wie machen es die Nachbarländer?
Über Reformen der Notfallversorgung in einigen europäischen Nachbarländern berichtete PD Dr. Wilm Quentin von der TU Berlin. Auch dort hätten Notaufnahmen teilweise mit einer stark steigenden Nachfrage zu kämpfen. In Dänemark habe man aus Gründen der Versorgungsqualität die Zahl der Notaufnahmen von 56 auf 22 gesenkt, an denen dann sämtliche fachärztlichen Disziplinen konzentriert zur Verfügung stehen. Zudem müssten sich Patient*innen vorab telefonisch dort anmelden und bekämen dann einen Termin zugeteilt. Mittlerweile sei diese Reform von der Bevölkerung gut angenommen worden.
Auch in den Niederlanden sei die Zahl der Notaufnahmen in den letzten Jahren reduziert worden; gleichzeitig habe man flächendeckend „Hausarzt-Stellen“ für die ambulante Notfallversorgung errichtet und zudem finanzielle Anreize für die „Umsteuerung“ ambulanter Patient*innen an diese Stellen geschaffen. Gründe für diese Zentralisierung sei immer der Wunsch nach einer besseren Versorgungsqualität für Notfallpatient*innen gewesen, die in größeren Einheiten fachkundiger versorgt werden können. Damit steige auch ihre Überlebenswahrscheinlichkeit.
Ambulante Angebote stärker an PatientInnen ausrichten
In der anschließenden Podiumsdiskussion, moderiert durch Lisa Braun, wurde darüber debattiert, welche Veränderungen es in Deutschland braucht, um die Notfallversorgung aus Sicht der Patient*innen zu verbessern. Einig war man sich darin, dass verständliche Strukturen, die sich nicht an den Sektorengrenzen, sondern an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientieren, sinnvoll seien.
Dr. Dominik Graf von Stillfried, Geschäftsführer des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung in Deutschland, betonte, dass auch ein geändertes Anspruchsverhalten seitens der Bevölkerung dazu geführt habe, dass häufiger Notaufnahmen aufgesucht würden. Zudem sei in der niedergelassenen Ärzteschaft angesichts gedeckelter Budgets die Motivation gering, zusätzliche Aufgaben wie Notdienste zu sprechstundenfreien Zeiten zu übernehmen. Die ambulante Notfallversorgung sei kein eigenständiger Bereich, sondern integraler Bestandteil der hausärztlichen Tätigkeit, der nicht flächendeckend trennscharf auf Portalpraxen ausgelagert werden könne.
Dr. Ilona Köster-Steinebach, Geschäftsführerin des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, hielt dagegen und forderte erneut auf, die Notfallversorgung vom Patienten her zu denken; momentan werde dies nicht getan. Daher müsse bei allen Strukturveränderungen die Verbesserung der Versorgungsqualität für die Bevölkerung im Mittelpunkt stehen, weniger die Vergütungsbedürfnisse einzelner Leistungserbringer. Das könne auch über eine stärkere Zentralisierung erfolgen. Zentral sei eine gute Steuerung der Patient*innen in das für sie beste Angebot und eine rasche Terminvergabe.
Mehr Versorgungsqualität durch Zentralisierung
Stefanie Stoff-Ahnis, Mitglied der Geschäftsleitung der AOK Nordost, erläuterte, dass neben einer veränderte Patientenhaltung und der Unübersichtlichkeit der Strukturen im Bereich des kassenärztlichen Notdienstes auch die große Zahl der Notaufnahmen in Ballungsräumen das Angebot triggere. Eine Zentralisierung der Notfallversorgung sei aus Qualitätsgründen angebracht, müsse aber gut in die Bevölkerung kommuniziert werden. Die Schaffung eines neuen, dritten Sektors mit eigenständiger Finanzierung lehnte Stoff-Ahnis allerdings ab. Eine Reform solle lieber auf eine stärkere Vernetzung der bestehenden Strukturen aufbauen; dazu müsse auch noch mal die Frage des Sicherstellungsauftrags neu diskutiert werden.
Prof. Rajan Somasundaram erklärte, letztendlich sei es egal, auf welchem Wege die Notfallversorgung finanziert werde; wichtig sei, dass die Kosten übernommen und Fehlanreize vermieden werden. Im ambulanten Bereich sei zudem eine stärkere Zuweisung von Versorgungsaufträgen notwendig. Die Notwendigkeit einer Zentralisierung teile er, bei einer gleichzeitigen Stärkung des Rettungsdienstes und der Etablierung ergänzender Versorgungsangebote in Wohnortnähe. Zu einem Qualitätsgewinn könne auch die überfällige Etablierung eines Facharztes für Notfallmedizin beitragen; hier hinke Deutschland den meisten europäischen Ländern hinterher.
Grüne planen parlamentarische Initiative
Abschließend erklärte Dr. Kirsten Kappert-Gonther, die aus ihrer Sicht zentralen Punkte einer Reform seien einheitliche Leitstellen sowie eine standardisierte telefonische Ersteinschätzung, die Patient*innen in das für sie passende Versorgungsangebot leiten. Zudem sei die Etablierung von Notfallpraxen an bestimmten Klinikstandorten notwendig; hierbei gelte es, in zentralen Anlaufstellen über die ambulante oder stationäre Weiterbehandlung alle Notfallpatient*innen zu entscheiden. Sektorengrenzen schadeten den Patient*innen und müssen in der Notfallversorgung – wie auch in der übrigen Gesundheitsversorgung – überwunden werden. Darüber hinaus müsse die Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung verbessert werden. Die Grünen werden im Herbst eine parlamentarische Initiative in den Bundestag einbringen, die ihre Vorschläge zur Reform der Notfallversorgung zusammenfasst.
* Sollten Sie Interesse an einzelnen Vorträgen haben, wenden Sie sich bitte an kirsten.kappert-gonther@bundestag.de.
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