Flucht als prägende Migrationserfahrung – psychologische und politische Aspekte, 12.11.2017

Am 12. November 2017 habe ich im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven einen Vortrag zum Thema „Flucht als prägende Migrationserfahrung – psychologische und politische Aspekte“ gehalten. Das Manuskript des Vortrags könnt ihr hier gerne nachlesen.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

 

ich freue mich sehr hier im Auswandererhaus zu Ihnen und mit Ihnen zu sprechen.

 

Ich kann mich noch gut an meinen ersten Besuch hier erinnern – 2005, ziemlich bald nach der Eröffnung – und wie begeistert ich war. Auch dadurch, dass wir mit dem Erwerb der Eintrittskarte eine neue, temporäre Identität erhielten. Dadurch wurde sofort deutlich: es geht bei Fragen der Flucht und Migration in erster Linie immer um Menschen und persönliche Schicksale, es geht nicht nur um abstrakte Zahlen oder gar ein diffuses Bedrohungsszenario, wie uns die Rechten immer glauben lassen wollen. Geschichte wird von Menschen gemacht, und das Zeitgeschehen betrifft echte Menschen, individuelle Schicksale von Familien, Eltern, Kindern.

 

Dieser zentrale Gedanke wird auch meinen heutigen Vortrag durchziehen: die rund 67 Millionen Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befinden, sind nicht einfach nur eine unvorstellbar große Zahl – wenn die Geflüchteten eine Nation bildeten, wäre dies die 24. größte Nation weltweit. Sondern jede und jeder dieser 67 Millionen Menschen hat einen Namen, Eltern, Hoffnungen, friert, wenn es kalt ist, und wird im Laufe eines langen Tages hungrig und durstig und müde – jede und jeder hat Schmerz und schweren Verlust erlebt, jede und jeder ist stark und mutig, sonst hätten sie gar nicht die Kraft und den Antrieb, die eigene Heimat zu verlassen, um in der Fremde eine neue Heimat zu suchen. Jede und jeder dieser 67 Millionen Menschen hat eine Seele. Eine Seele, die geprägt ist von den ganz frühen Erfahrungen in der Heimat, von Halt und Geborgenheit oder von Zerstörung und Unsicherheit. Bei den meisten Flüchtenden ist dies – wie bei den meisten von uns übrigens auch – eine Mischung aus positiven und negativen Erfahrungen.

 

Und auch das ist bei allen Menschen gleich: nicht jede negative Erfahrung ist eine schädigende Erfahrung. Unsere Seele wächst an schwierigen Situationen. Wenn eine Situation aber ausweglos ist oder zumindest erscheint, wenn wir uns ohnmächtig und ausgeliefert fühlen, egal wie gut oder schlau oder mutig wir sind, dann wächst die Gefahr, durch das Erlebte traumatisiert zu werden.

 

Jetzt sind wir schon mitten drin im Thema. Sie wissen, dass ich Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie bin. Ich praktiziere seit über 20 Jahren diesen schönen Beruf. Promoviert habe ich über Traumafolgestörungen. Ich habe nicht nur wissenschaftliche, sondern über all die Jahre auch viele praktische Erfahrungen in der Behandlung von Menschen mit Traumatisierungen gesammelt. Seit der letzten Bundestagswahl bin ich nun Mitglied des Deutschen Bundestages; vorher war ich über sechs Jahre Mitglied der Bremischen Bürgerschaft, wo ich u.a. die Gesundheitspolitik verantwortet habe.

 

Wir wollen daher heute über beide Aspekte von Flucht als prägende Migrationserfahrung sprechen: über die psychologischen Aspekte und was daraus politisch folgt.

 

Zunächst eine kurze historische Einordnung des Themas Migration und Flucht: Migrationsbewegungen gab es schon immer. Im 16. Jahrhundert flohen beispielsweise protestantische Minderheiten vor religiöser Verfolgung aus katholischen Ländern wie Frankreich oder Österreich nach Deutschland und Skandinavien. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sind über 50 Millionen EuropäerInnen – häufig aus Armut – in die USA ausgewandert; viele hier von Bremerhaven aus.

 

Im 20. Jahrhundert wurden vor dem Ersten Weltkrieg massiv polnische Wanderarbeiter für die Industriearbeit nach Deutschland abgeworben. Russische Flüchtlinge kamen nach der russischen Revolution nach Deutschland. Dann natürlich denken wir an die europäischen Jüdinnen und Juden, die vor den Nazis in alle Welt – in die USA, nach Palästina (das heutige Israel) oder nach China – flohen, um ihr Leben zu retten. Ähnliches gilt für andere im Nationalsozialismus verfolgte Gruppen.

 

Warum erwähne ich das? Um deutlich zu machen, dass es Migration schon immer gab – weltweit und auch hier bei uns in Deutschland und durch uns Deutsche. Es gab sowohl weitgehend freiwillige Migration, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu finden, und unfreiwillige Migration, nämlich Flucht vor Gewalt, Verhaftung, Folter und Tod. Hier sitzen bestimmt viele, deren Vorfahren in irgendeiner Generation in einem anderen Land geboren wurden oder deren Angehörige einst beispielsweise in die USA ausgewandert sind. Aktuell stammen 15 % der Menschen in Bremerhaven nicht aus Deutschland. Davon ist jeder Fünfte geflohen.

 

So unterschiedlich die Motive und die Umstände im Einzelnen sind: die meisten Menschen, die sich auf den Weg machen, sind besonders stark, besonders mutig, haben eine starke Vorstellungskraft und den Willen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Denn das bedeutet, dass die Menschen, die zu uns kommen, nicht nur Dinge brauchen wie ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Sprachkurse, sondern auch viel zu geben haben: ihre Lebenserfahrung, Schaffenskraft, Mut, Talente, Kreativität und ihren kulturellen Hintergrund. Eine Gesellschaft ist klug, diese Chance auch zu nutzen.

 

Vergegenwärtigen wir uns ein Mal die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten von Migration und Flucht: In der Literatur wird oft unterschieden zwischen freiwilliger Migration und unfreiwilliger Flucht. Die Grenzen sind aber fließend. Lebt schon ein geflüchtetes Familienmitglied in einem anderen Land, folgen häufig die Partner oder Kinder nach, auch wenn sie selbst nicht unmittelbar bedroht sind. Ähnlich ist es bei der sogenannten Arbeitsmigration, dem zweithäufigsten Migrationsgrund. Viele der ArbeitsmigrantInnen sind nicht nur auf der Suche nach Arbeit, sondern auch nach besseren Lebens- und Verdienstmöglichkeiten, vielleicht auch um einen Teil der Familie in der Heimat miternähren zu können. Wenn ich in meinem Land keine Chance habe, wenn ich meine Kinder kaum ernähren oder ihnen keine Schulbildung finanzieren kann und wenn ich dann meine Heimat für die Arbeit in einem anderen Land aufgebe: ist das dann freiwillige Migration oder Flucht? Auch diese Menschen haben in der neuen Heimat zunächst mal eine unsichere Bleibeperspektive. Mit Ausnahme der klassischen Einwanderungsländer (USA, Kanada, Australien) erhalten sie in der Regel nämlich nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis.

 

Der dritthäufigste Migrationsgrund ist die Flucht vor Not, Gewalt, Vertreibung und Verfolgung. Diese Flüchtlinge machen etwa 10% aller weltweiten Migrationsbewegungen aus. Eine Flucht in ein anderes Land anzutreten setzt immer einen enormen Druck auf die individuelle Lebenssituation der Betroffenen voraus sowie die Fähigkeit und teilweise auch die materiellen Voraussetzungen, diese Flucht zu bewältigen. Die allermeisten Menschen bleiben selbst unter katastrophalen Lebensbedingungen in ihren Heimatländern. Zwei Drittel aller weltweiten Flüchtlinge sind sogenannte Binnenflüchtlinge, die innerhalb ihres Heimatlandes in eine andere Region fliehen. Diejenigen, die in ein anderes Land flüchten, fliehen zu 80 Prozent in ein Nachbarland, nicht selten in ein Entwicklungs- oder Schwellenland. Die Länder, die in den letzten Jahren die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben, sind Pakistan, die Türkei, der Libanon, der Iran und Äthiopien. Nur die wenigsten Flüchtlinge schaffen den weiten Weg in die Industrieländer, nach Europa.

 

Aktuell kommen über die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit (55%) aus Syrien, Afghanistan und dem Südsudan. Auch wenn die politischen Hintergründe unterschiedlich sind, so sind es ähnliche Probleme, die die Leute in diesen Ländern zur Flucht zwingt: bürgerkriegsähnliche Zustände, Gewalt durch terroristische Milizen, eine zerfallende Staatsstruktur. Und damit sind wir schon bei Fluchtgründen: Es gibt viele Gründe für die Flucht in ein anderes Land. Häufig lassen sich diese Gründe nicht ganz trennscharf voneinander abgrenzen: Etwa die Hälfte der Flüchtlinge fliehen vor der Zerstörung der Lebensgrundlagen im Heimatland, vor Hungersnöten und Naturkatastrophen. Die andere Hälfte wird durch Kriege, Bürgerkriege oder ethnische und religiöse Konflikte zur Flucht gezwungen.

 

Seit 2008 wurden etwa 26 Millionen Menschen aufgrund extremer Klimabedingungen zur Flucht aus ihrer Heimatregion gezwungen. Zu den Fluchtgründen zählen extreme Wetterlagen, Wüstenbildung, Wassermangel und ein steigender Meeresspiegel. Oft gehen diese Lagen einher mit starker Armut und sozialen Konflikten, die ein Weiterleben in der Heimatregion unmöglich machen. ForscherInnen gehen davon aus, dass die Zahl solcher klima(mit)verursachter Fluchtbewegungen in der Zukunft Hunderte Millionen Menschen betreffen wird. Ein Beispiel: Die Küstenländer Westafrikas wie beispielsweise Ghana oder Nigeria sind aufgrund ihrer geringen Höhe vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht. In den Küstenregionen befinden sich 50% der Wirtschaftsinfrastruktur (insbesondere Fischerei und Tourismus) dieser Länder sowie die meisten Großstädte. 30% der Bevölkerung dieser Länder lebt dort. Was machen diese Menschen, wenn ihre Heimat zukünftig nicht mehr bewohnbar ist?

Wer Fluchtursachen bekämpfen will, muss also auch den Klimawandel aufhalten!

 

In was für einer inneren, in was für einer seelischen Situation befinden sich Geflüchtete? Wie prägt eine Flucht die Seele? Die zentrale Erfahrung ist eine tiefe innere Verunsicherung: haltgebende und vertraute Strukturen gehen verloren, neue Erfahrungen in einer neuen Umgebung stürmen auf einen ein, teilweise wird die körperliche und seelische Unversehrtheit angegriffen. Dadurch wird das ganze innere und äußere Gefüge durcheinander gewirbelt. Während der Flucht wird dies häufig verdrängt, muss sogar verdrängt werden, weil sonst die Menschen die Belastungen, die mit der Flucht einhergehen, gar nicht bewältigen könnten.

 

Und danach? Hierzu zunächst ein paar nüchterne Zahlen: Die Mehrheit der Geflüchteten sind Zeugen von Gewalt geworden, haben Leichen gesehen, über die Hälfte wurde selbst Opfer von Gewalt. 43% der Flüchtlinge sind Folteropfer, 20% haben sexuelle Gewalt erfahren – Frauen häufiger als Männer.

 

Aber: NICHT alle haben seelische Erkrankung, nicht jede furchtbare Situation bewirkt eine Traumatisierung. Nach aktuellen Schätzungen leidet ca. ein Drittel der erwachsenen Flüchtlinge unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD), die sich in Alpträumen, sog. Flashbacks, Schlafstörungen, Ängsten und Vermeidungsverhalten sowie Konzentrationsstörungen äußert. Ein Drittel leidet zudem an Depressionen oder Angststörungen, teilweise auch in Kombination. Unter minderjährigen Flüchtlingen ist die Zahl der Betroffenen sogar noch etwas höher: rund 40% der Kinder und Jugendlichen zeigen Symptome einer starken körperlichen und seelischen Belastung durch das Erlebte. Dies gilt insbesondere für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die ohne Familienmitglieder zu uns kommen.

 

Aber was bedeutet das für die betroffenen Menschen konkret? Um dies zu verstehen, hier ein paar Beispiele aus der Praxis: Eine heute 40jährige Frau, die im Zuge des Bürgerkrieges in den 90er Jahren aus dem Westbalkan nach Deutschland gekommen war, kam in meine Praxis mit anhaltenden Kopfschmerzen. Sie war von ihrem Haus- und diversen Fachärzten bereits umfassend untersucht worden – ohne Ergebnis. Sie nahm zahlreiche Schmerzmittel und konnte nicht mehr arbeiten, obwohl ihre Familie das Einkommen dringend benötigte. Sie konnte nicht mehr vor die Tür gehen, sondern sich nur noch zwischen Bett und Sofa hin und her bewegen. Bis zum Beginn der Schmerzen vor einem Jahr war sie eine aktive, erfolgreiche IT-Beraterin in einem größeren Unternehmen. Im Verlauf der Psychotherapie trat Folgendes zu Tage: Sie war als 15jährige in ihrer Heimat von einem Soldaten vergewaltigt worden. Die Familie floh nach Deutschland, nachdem Militärs im Zuge des Bürgerkrieges ihren kleinen Lebensmittelladen, der ihre wirtschaftliche Lebensgrundlage darstellte, von einem auf den anderen Tag quasi „enteignete“. In Deutschland angekommen, integrierte die Familie sich rasch, das Mädchen war klug und gut in der Schule. Alle waren froh, wie gut die Tochter alles weggesteckt hatte. Kurz vor Beginn der Krankheit hatte die Frau allerdings einen neuen Chef bekommen, der sie – wie sich im Verlauf der Behandlung herausstellte – in Sprache, Aussehen und Habitus deutlich an den Mann erinnerte, der sie vor 25 Jahren vergewaltigt hatte.

 

Ein anderes Beispiel: Der Fotograf Hosam Katan wurde 1994 im syrischen Aleppo geboren, er ist mittlerweile 23 Jahre alt. Nach Abschluss der Oberschule in seiner Heimat wollte er Wirtschaft oder Jura studieren. Der Bürgerkrieg beendete seine Berufsträume. Er begann zu fotografieren. Als schon alle offiziellen Medien ihre Reporter aus Aleppo abgezogen hatten, fotografierte er die Menschen in Aleppo, er fotografierte nicht den Krieg, er fotografierte Menschen im Krieg – und zeigt so die grausame Fratze der Gewalt. Bei seiner Arbeit wurde er angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Aber er überlebte. Dann erst beschloss er zu fliehen. Heute studiert er Fotografie in Hannover, hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten und zeigt seine Arbeiten im Rahmen von Ausstellungen. Kunst und Fotografie waren und sind für ihn ein Schutzschild gegen das Grauen.

 

Und noch ein letztes Beispiel: Ein 25jähriger Mann aus Syrien, der vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen ist, kommt in meine Praxis, er kann nicht schlafen, grübelt, morgens kommt er nicht aus dem Bett, kann sich nicht konzentrieren, ist schreckhaft, fährt zusammen, sobald er ein lautes Geräusch hört. In der Berufsschule bekommt er ständig Ärger, weil er oft fehlt oder seine Hausaufgaben nicht macht. Als es wegen des Osterfeuers in der Stadt nach Rauch roch, hatte er das Gefühl, wieder in seiner Heimatstadt und all den Schrecken und Bedrohungen erneut ausgeliefert zu sein. Er war nämlich gemeinsam mit seinem Bruder aus dem Bürgerkrieg geflohen, nachdem seine Eltern unter den Trümmern des Elternhauses begraben wurden. Tag und Nacht hatte er auf den Straßen Angst, erschossen zu werden. Sein Bruder kam auf dieser Flucht um. Die Diagnose ist eindeutig: PTSD und Depression.

 

Ein zentraler Risikofaktor für das Entstehen einer seelischen Erkrankung ist – das gilt für alle Menschen auf der Welt gleichermaßen – der Verlust haltgebender Strukturen: der Verlust von Familie, Freunden, dem Heimatdorf, der Arbeit oder auch liebgewonnenen Beschäftigungen in der Freizeit. Bei Flüchtlingen tritt die seelische Störung häufig erst auf, wenn die schlimmste Zeit vorbei ist, wenn die Seele hinterherkommen darf. Manchmal sind dies Monate oder Jahre nach der Traumatisierung. Und es gibt Faktoren, die das Risiko einer seelischen Erkrankung weiter erhöhen, nämlich der sog. Postmigrationsstress: die Einsamkeit und Eintönigkeit in Flüchtlingslagern, die unsichere Bleibeperspektive, das Fehlen von Familienmitgliedern, der Zwang zur Untätigkeit mangels Arbeitserlaubnis, fehlende Sprachkenntnisse, fehlender Zugang zu kulturellen Angeboten, die gesellschaftliche Ausgrenzung oder – im schlimmsten Fall – Ablehnung aufgrund rassistischer Ressentiments.

Und was schützt vor einer seelischen Erkrankung? Haltgebende Strukturen, Familie, Eingebettetsein in eine Gesellschaft, das Gefühl selbst etwas tun zu können, reden zu können und zu dürfen über das Erlebte.

 

Warum ist es wichtig, dass wir uns mit diesem Thema befassen und den von einer seelischen Erkrankung Betroffenen bestmöglich helfen? Zum einen geht es natürlich darum, ihr Leid zu lindern und es geht darum, ein gutes medizinisches und therapeutisches Versorgungsnetz anzubieten. Aber es geht auch um Prävention. Und es geht um den Schutz der nachfolgenden Generationen. Aus der Forschung wissen wir, dass Kinder und Enkel von Überlebenden der Shoah ein höheres Risiko für die Entwicklung von seelischen Erkrankungen haben, wenn die Überlebenden selbst ihre Traumata nicht bearbeiten und besprechen können. Psychodynamisch bedeutet das, dass Traumatisierungen der früheren Generationen unbewusst auf die 2. und 3. Generation übertragen werden. Menschen, die schwere Traumatisierung erlitten haben und diese in sich eingraben, die keine Möglichkeit haben, das unerträgliche Übermaß an Trauer und Aggression in sich aufzulösen, übertragen dies oft unbewusst an ihre Kinder. Man bezeichnet dies als transgenerationale Weitergabe von Traumatisierung.

 

Unbewusst wird von dem Kind erwartet, dass es die Gefühle und Traumata, die die seelische Gesundheit der Eltern angegriffen und teilweise tiefgreifend gestört haben, durch Liebe oder Wohlverhalten wiedergutmacht. Dem Kind kommt also der unbewusste und für ihn unlösbare Auftrag zu, das Lebensglück der Eltern wieder herzustellen. Zum Teil erlebt das Kind dann Ängste, Aggressionen oder auch Wünsche, die eigentlich Gefühle der Eltern sind, und versucht diese sowohl stellvertretend für die Eltern als auch für sich selbst zu lösen. Mit anderen Worten: Das Kind versucht die Eltern gesund zu lieben. Das kann aber nicht gelingen. Damit macht auch das Kind eine Ohnmachtserfahrung, die es mit niemandem wirklich teilen kann.

Denn häufig verhindert ein unausgesprochenes Tabu das Gespräch über die unerträglichen Erlebnisse der Eltern. Auflösen lässt sich der Schmerz nur, wenn in den Familien begonnen wird, über das Erlebte offen zu sprechen. Häufig benötigen Familien auch dafür therapeutische Unterstützung.

 

Auch in den Nachkommen der Täter sind übrigens solche transgenerational weitergegebenen Gefühle wirksam. Aggressivität, Destruktivität, Abwertung von anderen Menschen wurde auch auf die Kinder und Enkelgeneration der Täter des Holocaust übertragen und verursacht in diesen seelisches Leid. Diese Gedanken zu vertiefen, würde ein weiteres abendfüllendes Programm sein.

 

Daher nur so viel: Das destruktive Erbe der Nazis ist also in uns allen wirksam – egal, ob wir Nachfahren der Täter oder der Opfer sind. Wir haben die Aufgabe damit umzugehen. Und wir sollten so klug sein, daraus Lehren zu ziehen, wie wir mit den aktuell Traumatisierten umgehen, die gerade jetzt bei uns Schutz suchen. Wichtig ist das Wissen, dass auch die 2. und 3. Generation derer, die zu uns geflüchtet sind, noch eine höhere Rate von seelischen Erkrankungen aufweisen werden wird.

 

So kommen wir jetzt abschließend zu der Frage, was all diese Erkenntnisse für unser politisches Handeln bedeuten. Ich empfehle dafür, drei Handlungsebenen genauer zu beleuchten:

 

  1. Das Bekämpfen von Fluchtursachen
  2. Die Prävention seelischer Erkrankungen durch gute Integration der Geflüchteten
  3. Eine gute therapeutische Versorgung der Betroffenen, wenn eine psychische Erkrankung aufgetreten ist

 

Zum ersten Punkt – Fluchtursachen bekämpfen: Wir Grüne schlagen diverse Maßnahmen vor, die verhindern sollen, dass Menschen ihre Heimat überhaupt verlassen und woanders Schutz suchen müssen. Das bedeutet:

 

  • Die Industrieländer müssen mehr Mittel in Entwicklungszusammenarbeit und Krisenprävention investieren.
  • Wir müssen Rüstungsexporte in Krisenländer und Länder mit problematischer Menschenrechtslage stoppen.
  • Wir müssen Maßnahmen zum Klimaschutz auch in Entwicklungsländern vorantreiben und unterstützen; dazu gehören beispielsweise verbindliche nationale und internationale Klimaziele oder die Unterstützung von Umweltprogrammen in diesen Ländern.
  • Wir müssen die EU-Landwirtschafts- und Handelspolitik reformieren. Es kann nicht sein, dass wir weiterhin Lebensmittelexporte in Entwicklungsländer subventionieren und dadurch den Bauern dort vor Ort ihre Lebensgrundlage wegnehmen. Und schon heute sind viele Fischer an den Küsten Westafrikas durch die Hochseefischerei der Industriestaaten in ihrer Existenz bedroht.
  • Und wir müssen legalen Einwanderungsmöglichkeiten schaffen und die Unterstützung der Ausbildung von Fachkräften für diese Länder unterstützen. Wir Grüne haben dazu einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt.

 

Als Zweites müssen wir seelischen Erkrankungen vorbeugen, indem wir Geflüchtete hierzulande gut integrieren und das Risiko durch Postmigrationsstress minimieren. Entscheidend aus psychodynamischer Sicht ist es dabei, neue haltgebende Strukturen zu schaffen, in denen Vertrautes und Neues verbunden werden kann. Das bedeutet:

 

  • Wir müssen die bestehenden Restriktionen beim Familiennachzug abbauen, insbesondere für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten
  • Wir brauchen Integrations- und Sprachkurse von Anfang an – unabhängig von der Bleibeperspektive eines Menschen
  • Wir müssen die Durchführung von Asylverfahren beschleunigen, damit die Betroffenen wissen, was Sache ist und nicht monatelang gezwungen sind, in Unsicherheit und Untätigkeit zu verharren.
  • Wir brauchen mehr Maßnahmen zur Arbeitsförderung und Nachqualifikation, um die Menschen frühzeitig in den Arbeitsmarkt zu integrieren und ihnen das Gefühl zu geben, sie können und dürfen ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Dazu gehört auch, dass wir die Bleibemöglichkeiten für qualifizierte Fachkräfte und Geduldete, die einen Ausbildungsvertrag in der Tasche haben, verbessern.
  • Wir brauchen auch mehr Angebote für eine kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe, damit sich die Betroffenen angenommen fühlen und ihre neue Heimat mitgestalten können. Es hilft zu spüren, dass der eigene Beitrag willkommen ist.
  • Und um dies alles zu ermöglichen, brauchen wir eine zentrale Steuerung aller migrationspolitischen Anliegen, beispielsweise durch die Schaffung eines Bundesministeriums für Migration und Integration. Und wir brauchen mehr Unterstützung für die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, ohne die diese enorme Aufgabe nicht zu bewältigen ist.

 

Wenn eine seelische Erkrankung aufgetreten ist, brauchen die Betroffenen zudem eine gute therapeutische Versorgung. Das erreicht man aus grüner Sicht am besten durch

 

  • die Einführung der Gesundheitskarte in allen Bundesländern;
  • die Schaffung von Mechanismen zur Früherkennung posttraumatischer Belastungen;
  • eine gute Information der Betroffenen über Möglichkeiten der Begleitung und Therapie in solchen Situationen;
  • Sonderbedarfszulassungen für muttersprachige PsychotherapeutInnen, um einerseits die erhöhte Nachfrage an Therapieplätzen bewältigen zu können und um der besonderen Bedeutung des gesprochenen Wortes in der Therapie Rechnung zu tragen.
  • die Übernahme der Dolmetscherkosten im Rahmen der Therapie durch die GKV, wenn die Betroffenen noch nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügen, sodass bei ihnen eine Psychotherapie fachgerecht durchgeführt werden kann.
  • Eine nachhaltige Finanzierung von so hervorragenden Beratungsstellen wie in Bremen „Refugio“ und anderer Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, die tagtäglich eine wichtige und tolle Arbeit machen.

 

Und nun wollen wir diskutieren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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